Zur Kritik des Lärmsystems
Die Nachrichten, die von der Wirtschaftspresse und dem Finanzfernsehen verbreitet werden, repräsentieren zumeist keine “Informationen” im verwertbaren Sinne. Es scheinen gehaltvolle Daten vorzuliegen, in Wirklichkeit jedoch handelt es sich zumeist um noise – entleerte Info-Partikel, die schon in den Börsenkursen enthalten sind. Anleger, die solchen Pseudo-Informationen folgen, sind als noise trader zu betrachten. Sie basieren ihre Investment-Entscheidungen auf Daten, die eigentlich nichts bedeuten.
Also viel Lärm um nichts? Keineswegs, denn die Abhängigkeit von entleerten Info-Partikeln verleitet die Anleger zu verstärkter Stimmungsanfälligkeit. Sie orientieren sich an Marktlaunen, Gerüchten und, besonders folgenreich: an vergangener Performance. Sie laufen Trends hinterher, da sie dem Trugschluß aufsitzen, dass die zukünftige Kursentwicklung der Vergangenheit folgt. Und sie machen die Märkte schwankungsanfälliger, dadurch dass sie nervöse Überreaktionen hervorrufen und diese verstärken.
Besonders seit den neunziger Jahren ist das Volumen kapitalmarktbezogener Nachrichten in den Medien stark gestiegen. Das Heer der noise trader hat sich millionenfach verstärkt. Das Handeln einer steigenden Zahl von privaten, aber auch von professionellen Investoren unterliegt zunehmenden Stimmungsschwankungen. Besonders in Phasen des Börsenaufschwungs: Bei steigenden Kursen steigen die Reichweiten der Wirtschaftsmedien – und damit der Lärm im Markt.
Finanzökonomen argumentieren, dass noise eigentlich erst die Voraussetzung für das Zustandekommen liquider Märkte liefert: Börsengeschäfte werden nur durchgeführt, wenn Kontrahenten unterschiedlicher Meinung über die Zukunftsaussichten der betreffenden Anlagen sind. Diese Meinungsdifferenzen gehen zwangsläufig auf qualitativ unterschiedliche Informationen – und somit auf die Existenz von Lärm – zurück. Ein gewisser “Lärm-Pegel” ist somit notwendig, damit es überhaupt zu einem Handel kommt.
Erst wenn genügend Lärm im Markt ist, haben die Informationsbesitzer einen Anreiz aktiv zu handeln. Ansonsten müssten sie gegen ebenbürtig informierte Marktteilnehmer antreten, was die Handelsfrequenz stark reduzieren würde. Um dies zu verhindern und um hinreichend viele weniger gut informierte Kontrahenten zu haben, liegt es in ihrem Interesse, Handelsplattformen zu installieren, Finanzinstrumente zu schaffen, für diese Werbung zu machen und Lärm zu produzieren, um für Nachfrage zu sorgen.
So betrachtet liegt es im Interesse der Informationsbesitzer, wenn es zahlreiche Wirtschaftsmedien gibt, die wenig gehaltvolle Pseudo-Informationen verbreiten, welche ein „Gefühl von Markt“ vermitteln, im Grunde genommen jedoch wertlos sind. Wenn es sie nicht gäbe, müssten diese Marktteilnehmer die Medien geradezu erfinden, um die Idee der Märkte zu popularisieren und neue Investoren zu gewinnen. Es mag sich um einen kuriosen Zufall handeln: Genau dies ist in der Praxis zu beobachten.
Doch noise hat weitere Effekte: Er erschwert es, zu einem klaren Bild der Marktverhältnisse zu gelangen. Eine Wand wertloser Informationen trübt die Sicht auf die tatsächlichen ökonomischen Verhältnisse. Durch Lärm werden die Marktsignale zweideutig, eine angemessene Bewertung von Anlagen wird zunehmend schwieriger – auch für „informierte“ Marktteilnehmer. Lärm erfüllt also nicht nur seine „natürliche“ Funktion der Herstellung von Liquidität in den Märkten: Er macht die Preise weniger effizient.
Dies bietet informierten Investoren die Gelegenheit, die Fehler, die naiven noise tradern unter dem Eindruck kontaminierter Nachrichten unterlaufen, auszunutzen: Sie können die Überreaktionen, die sich im Zuge positiver Feedback-Prozesse ergeben, antizipieren – wodurch sie diese verstärken. Und sie können Gegenpositionen aufbauen, um die Preise auf ihr korrektes Niveau zurück zu führen und die noise trader dadurch von ihrem Geld trennen.
Doch handelt es sich um kein Nullsummenspiel. Denn ineffiziente Preise implizieren eine erhöhte Schwankungsanfälligkeit, ein zusätzliches systematisches Marktrisiko. Die Unberechenbarkeit der Preise nimmt zu, wenn das Anlegerverhalten durch Lärm konditioniert wird. Systematische Marktrisiken betreffen jedoch alle Marktteilnehmer, sie lassen sich nicht durch Gegenmaßnahmen eliminieren. Auch die damit verbundenen Kosten werden von allen Marktteilnehmern getragen.
Lärm destabilisiert. Pseudo-Signale trüben die Sicht auf die realen ökonomischen Verhältnisse und tragen zur Entstehung sich-selbst-verstärkender Preisdynamiken bei. Und sie wirken in unvorhersehbarer Weise auf die ökonomischen Verhältnisse zurück. Zu diesen Pseudo-Signalen gehören die Vorhersagen der Finanzgurus, die meisten der von Broker-Häusern und Banken verbreiteten Informationen sowie die Non-Events der Nachrichtenmedien.
Mit der Expansion des Lärmsystems haben die destabilisierenden Kräfte zugenommen. Die Märkte sind weit davon entfernt, ein dauerhaftes Gleichgewicht zu erreichen. Denn die Wahrscheinlichkeit dynamischer Selbstläufer steigt mit zunehmendem Lärmniveau. Mehr denn je also gilt der Satz, dass die Märkte auf der Mikro-Ebene effizient sein mögen und gleichzeitig auf der Makro-Ebene ineffizient sein können. Und dies womöglich zunehmend auch sind.
Zwar besteht die Möglichkeit, von den verstärkten Marktschwankungen zu profitieren: Noise trader können erhöhte Gewinne erzielen, in Unkenntnis des Risikos, dem sie sich aussetzen. Information trader können versuchen, die Fehler der noise trader auszunutzen. Gewinn und Verlust sind nicht immer sauber zwischen rationalen und irrationalen Investoren verteilt. Oft sind diese kaum oder gar nicht voneinander zu unterscheiden.
Potentiell jedoch verringert sich der Nutzen für alle, während das Risiko disproportional steigt – für alle. Auch wenn das exakte Niveau quantitativ schwer zu beziffern ist: Ab einem gewissen Punkt überwiegen die Kosten des Lärms dessen Nutzen, bis unter dem Strich alle gemeinsam schlechter weg kommen. Lärm wird gesamtwirtschaftlich konterproduktiv, da er zur Verschwendung von Vermögen führt.
Exzessiver Lärm stört die adäquate Verwendung von Ressourcen und kann das Vertrauen in die Märkte untergraben. Rationale Investoren werden abgeschreckt, da ihnen die Risiken zu groß werden. Die übrigen sind erst hinterher schlauer: Wenn Investoren erkennen müssen, dass sie geschädigt wurden, weil ihr Bild von den Märkten einer künstlichen Lärm-Kulisse entsprach, ist eine kollektive Ernüchterung die wahrscheinliche Folge.
Den Nutzen davon haben nur wenige: diejenigen, die von einem steigenden Handelsaufkommen und erhöhten Informationsumsätzen profitieren; sowie diejenigen, die erfolgreich gegen uninformierte Investoren wetten, die Pseudo-Informationen folgen. Viele werden ärmer, wenigen bietet sich die Möglichkeit, sich systematisch zu bereichern.
Schlusswort zu Thomas Schuster, Märkte und Medien. Wirtschaftsnachrichten und Börsenentwicklungen. Konstanz: UVK, pp. 121-124.