So weit die Quoten tragen

von Thomas Schuster

SANKT PETERSBURG, 6. September. Der GULag wurde auf den Solowjetskij-Inseln im Nordwesten Russlands erprobt. Auf dem Inselarchipel im Weißen Meer, das nur hundertfünfzig Kilometer südlich des Polarkreises liegt, entstand 1923 eines der ersten sowjetischen Lager für politische Gefangene. Hier trainierten die Kommunisten die Techniken des Terrors, hier fand Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili sein Modell für Sibirien, und von hier aus wucherte das Krebsgeschwür, als welches Alexander Solschenizyn die Lager beschrieb.

Die amerikanische Library of Congress hat auf einer Website mit Material aus sowjetischen Archiven einen Brief vom Dezember 1926 veröffentlicht, in dem drei Gefangene nach ihrer Rückkehr von den Insellagern die dort herrschenden menschenunwürdigen Verhältnisse schildern: “Wir kehren als Invalide zurück, emotional und körperlich gebrochen und verkrüppelt . . . Es ist kaum möglich, sich solchen Schrecken, solche Tyrannei, Gewalt und Gesetzlosigkeit vorzustellen.” Schätzungsweise 30 000 bis 40 000 Gefangene starben allein in den Lagern von Solowjetskij. Sechzig Millionen Opfer forderte der GULag insgesamt.

Der Engländer Charles McFall hatte keine Ahnung von der düsteren Geschichte des Ortes, als er Ende August auf Anzer, einer der Inseln des Archipels, landete. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht einmal, in welchem Land er sich befand. Die Augen verbunden, die Ohren verstöpselt, war er in einem in London gestarteten Privatjet auf dem Flughafen von Archangelsk zwischengelandet, bevor er hastig in einen Helikopter gedrängt und an die Stätte des stalinistischen Terrors verfrachtet wurde. Dort angekommen, wurden McFall und acht weitere Briten auf dem Eiland ausgesetzt und sich selbst überlassen.

Während die russische Bevölkerung von einer Serie tödlicher Schicksalsschläge getroffen wird, deren gemeinsamer Nenner ist, dass sie schlimme Erinnerungen an alte Sowjetzeiten wecken, probt die Kulturindustrie des ehemaligen kapitalistischen Systemgegners im russischen Hinterland ihr neuestes Unterhaltungsprodukt: Charles McFall und seine Gefährten sind die Protagonisten des Pilotfilms der neuen Reality-Spielshow mit dem Projektnamen “Lost”, die zu Weihnachten beim englischen Fernsehsender “Channel Four” Premiere feiert.

Das Konzept der Sendung ist simpel. Es folgt dem seit “Big Brother” hinlänglich bekannten Format des episodischen Eliminationsspektakels: Drei Mannschaften werden an einen beliebigen Punkt der Erde transportiert, ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Jede Gruppe besteht aus zwei Privatleuten und einem professionellen Kameramann. Von der Landezone aus müssen sie unter laufender Videoüberwachung schnellstmöglich zur Statue Lord Nelsons am Londoner Trafalgar Square eilen. Wie sie das tun, bleibt ihnen überlassen. Auf die Sieger wartet ein Jackpot von 10 000 Pfund.

“Wir haben nach einem Schauplatz gesucht, von dem nur schwer zu entkommen ist”, sagt David Dugan, der “Executive Producer” des Programms. Das ehemalige Konzentrationslager schien als Ausgangspunkt der Hetzjagd besonders geeignet: Die karge Insel hat einen Einwohner, dem das einzige Boot weit und breit gehört. Ansonsten leben dort noch einige Mönche in einem abgeschiedenen Kloster, denen fremde Besucher nicht sehr willkommen sind. Auch dies hatten die Fernsehleute sorgfältig recherchiert. In dieser unwirtlichen Gegend wurden die neun Engländer, darunter ein Lehrer, ein Erfinder, eine Marketingexpertin und ein Rastamann namens Cameron John, der auf den Spitznamen “Herbtree” hört, am letzten Samstag im August abgesetzt – zum Sonnenuntergang, um der Sache gespenstischen Reiz zu verleihen. Anleihen beim zeitgenössischen Horrorgenre waren gewollt: Der Kinofilm “Blair Witch Project” hat die Fernseh-Produzenten, die eigentlich auf seriöse Dokumentarfilme spezialisiert sind, zu ihrer makabren Reality-Show inspiriert.

In dem Billigstreifen, der zu einem der Kassenknüller des vergangenen Jahres wurde, war eine Gruppe Jugendlicher in den Wäldern Neuenglands verlorengegangen und von gespenstischen Erscheinungen heimgesucht worden. Für Authentizität sorgte eine wackelige Handkamera, die dem Film seine pseudo-dokumentarische Dichte verlieh und den Zuschauer davon überzeugen sollte, dass es sich um reale Ereignisse handelte. Ähnlich nun das englische Fernsehspiel, nur umgekehrt: Es holt das Reality-TV aus der sterilen Enge vollelektronischer Menschen-Container und hetzt seine Probanden in die öde Weite Russlands. Nur um das Freiluft-Experiment am Schneidetisch wieder in ein virtuelles Erlebnis zurückzuverwandeln.

Die Inszenierung ist spontan und minutiös geplant zugleich. Ganz unvorbereitet war die merkwürdige Entourage nicht gestartet: Jeder Teilnehmer hatte ein Überlebenstraining durch Experten mit SAS-Erfahrung absolviert und musste sich vor Beginn des Trips einem psychologischen Eignungstest unterziehen. Getrocknete Notfallrationen, ein Schlafsack und eine halbe Flasche Whisky bildeten das Marschgepäck. Als Reisekasse standen jedem Kandidaten zweihundert Dollar zur Verfügung – nicht viel für eine Expedition quer durch einen Kontinent, doch mehr als das Zehnfache dessen, was ein Russe im Durchschnitt verdient. Zur selben Zeit, da die russische Öffentlichkeit, noch schockiert vom Bombenattentat am Moskauer Puschkinplatz und dem Untergang der “Kursk”, die konsequente Katastrophe ihrer Geschichte kontempliert, landen neun reiche Westeuropäer am Schauplatz eines der dunkelsten Kapitel der an dunklen Kapiteln reichen Historie der alten Großmacht, ohne dies zu wissen und nur zu dem Zweck, das Land auf dem schnellsten Weg gen Westen wieder zu verlassen. Der Alltag Russlands dient als Kulisse, die Bevölkerung wird zur Komparserie reduziert, um die nötige Atmosphäre für die Show aus dem GULag zu liefern.

Die russischen Behörden standen der englischen Medien-Expedition äußerst aufgeschlossen gegenüber. “Es ist erstaunlich, was sie uns erlaubt haben”, berichtet Rob Davis, Produktionsleiter des Programms. “Sie waren begeistert von der Idee, neun Briten mitten in Archangelsk zu haben. Sie betrachteten es als soziales Experiment.” Selbst der russische Zoll drückte ein Auge zu: Da die Kandidaten nicht vorzeitig Hinweise auf ihren Aufenthaltsort erhalten sollten, gingen die Beamten nicht in Uniform, sondern in Zivilkleidung an Bord, um die Papiere der Passagiere zu überprüfen.

Die russische Öffentlichkeit erlebte in diesen Tagen derweil ein anderes soziales Experiment. Im Gegensatz zu den Archangelsker Beamten, die sich über den Besuch der ausländischen Medienleute freuten, waren die Behörden in Murmansk von der Medienpräsenz der letzten Wochen wenig begeistert – vor allem wenn es sich um Journalisten aus dem eigenen Land handelte. Die Pressepolitik der russischen Regierung nach dem Untergang der “Kursk” diente Beobachtern als Warnung, dass die Sowjetunion politisch zwar nicht mehr existiere, deren politische Praxis aber fortdauere. Selbst die Namen der Seeleute des gesunkenen U-Bootes wurden erst veröffentlicht, nachdem ein Redakteur der “Komsomolskaja Prawda” die Liste von einem Marineoffizier für ein Entgelt von 650 Dollar erworben hatte – fünf Tage nach dem Unglück.

Auch über den Verbleib der drei Mannschaften des Unternehmens “Lost” war zunächst wenig bekannt. Das englische Fernsehen bemüht sich, Details über die Flucht aus Rußland bis zum Sendetermin geheimzuhalten. Durch einen Bericht der “Moscow Times” sickerte jedoch durch, dass die Gruppe um Charles McFall die Insel per Boot verließ und nach einer ungemütlichen Zugfahrt Ende August in Moskau eintraf. “Die meisten Leute im Zug waren beim Angeln gewesen. Es stank bestialisch”, sagte McFall über seine Reise.

Der harte russische Alltag hatte erste Spuren hinterlassen: “Meine Füße bringen mich um. Ich habe überall Blasen”, beklagte sich McFall. Ähnlich wie weiland Clemens Forell, der Held des Romans “So weit die Füße tragen”, erfuhr McFall die Mühsal des langen Marsches gen Westen. Nach dem Zeitungsbericht in der “Moscow Times” gab es zunächst nur ein weiteres Lebenszeichen des Teams McFall: Der Engländer, der endlich wusste, in welchem Land er sich befand, gab seine Position per Mobilfunk an Freunde in London durch. Danach wurden die Angaben im Internet veröffentlicht. Von Moskau aus, so hieß es, sei die Gruppe über Polen Richtung Westen unterwegs. Und dies viel schneller als von den Regisseuren des Reality-Spektakels erwartet: Wie von den Produzenten der Show zu erfahren war, erreichte das erste Team bereits sechs Tage nach dem Start die Statue Lord Nelsons am Trafalgar Square. Die beiden anderen Gruppen folgten mit nur einem Tag Verspätung.

Ob das videographierte Freiluft-Experiment serientauglich ist, soll die Ausstrahlung an Weihnachten erweisen. Die Initiatoren des Projekts spekulieren auf einen Dauerbrenner, der ihnen reiche Rendite beschert. Schon ist an eine Fortsetzung mit internationaler Besetzung gedacht: Anstatt rein englischer Teams könnten beim nächsten Mal Gruppen aus verschiedenen Nationen zum Survival-Lauf um die Welt antreten. Auf den Solowjetskij-Inseln ist indes wieder Ruhe eingekehrt. “Lasst sie doch verlorengehen, wenn sie nichts Besseres zu tun haben”, sagte ein Bewohner von Archangelsk, als er von der Landung der Briten erfuhr. Die Russen haben keinen Bedarf an simulierten Grenzsituationen. Ihr Alltag ist ohne mediale Intervention abenteuerlich genug.

Thomas Schuster, So weit die Quoten tragen. Reality-TV in Rußland: “Channel-Four” steckt neun Mann in den Gulag. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.9.2000.

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