Wie man der Börse aufspielt

von Thomas Schuster

Alle haben sie gelacht: Egbert Prior, Bernd Förtsch und Bolko Hoffmann – die Vortänzer unter den deutschen Finanz-Beschwörern. Alle waren sie von dem neuen Börsen-Kandidaten begeistert. Vom “Augsburger Überflieger” war die Rede, einem “reinrassigen Wachstumswert”, dem “Favoriten für spekulative Anleger”, dessen “Geschäftszahlen sich in kurzer Zeit vervielfachen” könnten. Der Newcomer des Sommers 1998 versprach ein Börsensprinter zu werden. Auch viele Analysten, die vermeintlichen Radiologen unter den Finanzdiagnostikern, attestierten, der Athlet sei kerngesund. Doch sie lagen alle daneben: Nur zwei Jahre nach dem Börsengang der Softwarefirma “Infomatec”, die von vielen so eifrig angefeuert worden war, muss man einen eklatanten Fall von Doping attestieren. Das unerlaubte Aufputschmittel heißt überzogene Erwartung, unter die Leute gebracht wird es nicht zuletzt von den vermeintlichen Vordenkern, die doch oft nur die Lautsprecher der Finanzszene sind.

Im August erhärtete sich der Verdacht, dass die “Infomatec Integrated Information Systems AG” eine gezielt manipulative Pressepolitik betrieb. Wie die “Computerwoche” berichtete, seien viele der Pflichtmitteilungen des schwäbischen Unternehmens – der gesetzlich vorgeschriebenen Meldungen kursrelevanter Nachrichten – als “Grenzgänger zwischen Dichtung und Wahrheit” zu betrachten: Groß angekündigte Millionenaufträge materialisierten sich nur zu einem Bruchteil des avisierten Volumens oder kamen überhaupt nicht zustande. Auch im Umgang mit Geschäftspartnern habe es regelmäßig eigenartige “Missverständnisse” gegeben. Es kamen weitere Ungereimtheiten ans Licht: Ende August musste Infomatec die Prognose für das laufende Geschäftsjahr revidieren. Um nicht weniger als fünfzig Prozent werde man das geplante Umsatzziel verfehlen. Ad-hoc-Mitteilungen wurden allem Anschein nach dazu missbraucht, die Anleger in Sicherheit zu wiegen.

In den Presseberichten zu diesem wie zu ähnlichen Skandalen wird vermerkt, die Wurzel des Problems sei in einer Mischung aus Schlamperei und Inkompetenz zu suchen: Die Gründer der jungen High-Tech-Unternehmen seien, quasi vom eigenen Erfolg überrollt, den täglichen Anforderungen des professionellen Umgangs mit der Öffentlichkeit nicht gewachsen. Letztlich handele es sich um “Ausrutscher”. Gelegentlich wird zwar erwähnt, dass manche Firmensprecher die Pflichtmitteilungen gezielt zu Werbezwecken missbrauchen. Doch erst die mangelhafte journalistische Selektion seitens der Medien öffnet den Kommunikationsexperten der Wirtschaft einen strategischen Korridor.

Die Masse an gezielter PR in den Wirtschaftsmedien ist kaum zu überschätzen. Investor- und Public-Relations-Experten bemühen sich, den von ihnen vertretenen Unternehmen Gehör zu verschaffen – nicht in Anzeigen und Werbeblöcken, sondern im redaktionellen Teil der Medien. Akademische Studien kommen regelmäßig zu dem Ergebnis, dass mehr als zwei Drittel aller Wirtschaftsnachrichten auf PR-Arbeit basieren. Das Doping-Mittel zur Stimulation der Börsen-Performance ist die Pressemitteilung. Jürgen Kurz von der Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz meint, “der Fall Infomatec” sei “symptomatisch”. Der Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit führe zu “Auswüchsen” bei den Ad-hoc-Berichten: “Früher gab es fünf Mitteilungen täglich. Heute sind es fünfzig oder achtzig am Tag. Selbst die Einstellung eines neuen Pförtners wird gemeldet.”

Einst ein grobes Werkzeug der PR, hat sich die Unternehmensmeldung zu einer wahren Kunstform entwickelt. Die filigrane Formulierung der Botschaft ist entscheidend. Gewinnmitteilungen sind besonders interessant: Da werden Verliererfirmen zu glänzenden Börsenwerten gestylt, indem man die Verluste ganzer Geschäftsbereiche ignoriert. Stehen Gewinne gänzlich in den Sternen, wie etwa bei vielen Internet- und Biotechnologie-Unternehmen, werden wachsende Umsätze in den Vordergrund gerückt – die eigentliche Nachricht über anhaltend rote Zahlen wird tief im Text vergraben. “In letzter Zeit gibt es eine Inflation von Ad-hocs, und es häuft sich der Missbrauch”, meint eine Sprecherin des Bundesamtes für Wertpapierhandel. Selbst Konzerne wie Walt Disney oder die Deutsche Telekom gelten als äußerst publizitätsfreudig.

Ad-hoc-Meldungen können Börsenkurse bewegen und das Meinungsklima der Aktionäre beeinflussen. Um diese bei Laune zu halten, werden Nichtereignisse inszeniert: zum Beispiel eine Allianz, die niemals zustande kommt; eine “strategische Neuausrichtung”, die bloß auf dem Papier steht; oder ein “revolutionäres Produkt”, das noch Jahre auf sich warten lässt. Hauptsache, es wird positiv berichtet. So wurden Millionen von Investoren am 6. März 2000 von der Nachricht überrascht, die Firma “NeoRx” habe ein Heilmittel gegen Krebs entdeckt. Der Kurs der kleinen Biotechnologie-Firma aus Seattle verdreifachte sich daraufhin. Auslöser der Kursexplosion war eine Pressemeldung mit dem Titel “NeoRx berichtet Heilung von Lungen-, Brust- und Dickdarmkrebs in vorklinischen Tierversuchen”. Ein Aspekt war dabei aber nicht klar zum Ausdruck gekommen – dass die Bestätigung der Ergebnisse an menschlichen Patienten noch Jahre dauern wird, ganz zu schweigen von der Marktreife eines möglichen Medikaments.

Unternehmerische Nullnummern sind durch gezielte PR bereits zu wahren Börsenhits aufgeblasen worden. Findige Unternehmer haben erkannt, dass sich durch die Instrumentalisierung der Investor Relations die schnelle Mark machen lässt. Gottfried Heller, der frühere Partner des verstorbenen André Kostolany, meint: “Manche Unternehmen haben Pressemitteilungen in ein Instrument zur Kursmanipulation umfunktioniert. Sie melden wöchentlich mehr oder weniger belanglose, aber stets positiv gehaltene Neuigkeiten. So treiben sie den Kurs mit heißer Luft nach oben.” Die Strategie ist wie folgt: Man entwickle eine Geschäftsidee, die im Trend der Zeit liegt. Man suche sich eine gute PR-Agentur. Man bringe die flugs gegründete Firma mit enormem Werbeaufwand an die Börse. Man kassiere das Geld der Anleger ab. Hinterher stellt sich heraus: Der Unternehmer war ein Windhund, seine Firmenidee ein Windei, und die Umsatz- und Gewinnprognosen waren mehr als windschief. Die Zeche zahlen die Anleger, die den Windmachern auf den Leim gegangen sind.

Im Internet ist eine journalistische Mischform entstanden, die Investor-Relations-Botschaften filterlos unters Volk bringt. Die Betreiber der Finanzseite “Stockworld” zum Beispiel bieten potentiellen Firmenkunden den direkten Zugang zum Privatanleger: “Auf Wunsch veranstalten wir für Sie Chat-Sprechstunden, in denen Aktionäre live Fragen an leitende Mitarbeiter Ihres Unternehmens stellen können. In unserem Stockworld Report berichten wir regelmäßig über die Entwicklungen Ihres Unternehmens.” Im Klartext bedeutet dies, dass Unternehmen ein Forum geboten wird, das auf lästige redaktionelle Eingriffe verzichtet. Auch hier hat übrigens die Firma “Infomatec” mitgemischt: Laut Aussage von Stockworld war die Software-Firma “bis vor wenigen Wochen” an dem Finanzportal mit zehn Prozent beteiligt. Die Geschäftsbeziehung sei aber schon Anfang des Jahres beendet worden.

Der ungenügende journalistische Filter ist der Kern des “Ad-hoc-Problems”: Die Instrumentalisierung von Presse-Meldungen wäre ohne die offenen Medienkanäle unmöglich. Auch der Wirtschaftsjournalismus ist somit verantwortlich dafür, dass die Unternehmensberichterstattung zur Marketing-Kommunikation verkommt. Dass mittelfristig selbst die cleverste Medienstrategie nichts nützt, wenn das Geschäft nicht läuft, auch dies beweist der Fall “Infomatec”: Der Kurs der Firma ist trotz oder gerade wegen des publizistischen Dopings von einem Jahreshoch bei 53 Euro auf vier Euro kollabiert.

Thomas Schuster, Wie man der Börse aufspielt. Ad hoc, ad hoc: Pressemeldungen narren die Wirtschaftspresse. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2000.

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